Die Wettkämpferin

Sie trainiert bis zu fünfmal pro Woche, möchte dieses Jahr Deutsche Meisterin werden und ihre ersten internationalen Wettkämpfe schießen: Ann-Sophie Bäth ist ein großes Talent am Luftgewehr. Wenn die 21-Jährige das schafft, wäre es ein medizinisches Wunder, denn sie ist unheilbar krank.

Kapitel 1: Die Leidenschaft

"Talent ist harte Arbeit, Perfektion dauert Jahre.
Erfolg ist kein Glück, sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen."
- Erfolg ist kein Glück (Kontra K) -

Zielen. Auslösen. Laden. Zielen. Auslösen. Laden. Zwei bis drei Stunden lang, bis zu 120 Mal. Zielen. Auslösen. Laden. Diesen Ablauf trainiert Ann-Sophie Bäth an mindestens vier Tagen pro Woche. Um im Schießen erfolgreich zu sein, braucht es neben eiserner Disziplin aber vor allem eine gute Körperbeherrschung, Nerven wie Drahtseile und lange Konzentrationsphasen. 

Bevor sie mit der Sportwaffe zielte, waren Koppeln und Reitställe ihr sportliches Zuhause: Noch vor zwei Jahren war sie auf Reitturnieren zu finden, ging in der Dressur an den Start. “Durch den Reitsport habe ich mir vor allem die Ruhe und Konzentration erarbeitet, das hilft mir beim Schießen enorm”, erzählt Ann-Sophie. Trotz des Sportart-Wechsels ist sie noch heute fast täglich im Reitstall zu finden und trainiert dort den Nachwuchs. 

“Als mit dem Reitsport Schluss war, habe ich eine Aufgabe für meinen Kopf gebraucht, irgendwas, was ich gut kann, beziehungsweise wofür ich trainieren kann, und dann stellte sich die Frage nach der Sportart nicht so wirklich.”

Der Grund: Das Schießen ist in ihrer Familie Tradition. “Meine Eltern und Großeltern sind Schützen und haben mich jedes Jahr zu den Schützenfesten mitgenommen. Ich kannte quasi schon alle, bevor ich überhaupt angefangen habe und schätze diese Gemeinschaft sehr.” Zuerst versuchte sie sich am Bogenschießen, dann entdeckte Ann-Sophie ihre Leidenschaft für das Luftgewehr. Und es dauerte nicht mal ein Jahr, bis sie sich für die Landesmeisterschaft in Schleswig-Holstein qualifizierte. Ein Wettkampf, der ihr noch viele Türen öffnen sollte.

“Schießen ist ein guter Sport, wenn dein Körper abbaut"

Luftgewehrschießen bedeutet zehn Meter Abstand zum Ziel, es gibt zwei Modi: entweder 40 Schuss in 60 Minuten, oder 60 Schuss in 95 Minuten – eine Viertelstunde Zeit für Probeschüsse eingeschlossen. Es gibt keine Pause, jeder Schütze kann seine Schuss in diesem Zeitrahmen abgeben, wann er will. Das bedeutet: Wer sich vom Gegner am Schießstand nebenan verwirren lässt, hat ein Problem. Oder wie es Ann-Sophie erklärt: “Je aufgeregter du im Wettkampf bist, desto mehr wackelt dein Sportgerät und desto schlechter ist deine Trefferquote.”

Wichtig sei auch, bei Fehlschüssen nicht zu schnell frustriert zu sein, erklärt das Talent am Luftgewehr. Wer Ann-Sophie so routiniert über Details wie Atmungskontrolle und Selbstbeherrschung reden hört, denkt, dass sie schon ewig schießt. Tatsächlich sitzt sie aber erst seit zwei Jahren am Stand. Und die ersten Meisterschaften warten schon. 

Das Schützenheim in ihrer Heimatstadt Ahrensburg ist inzwischen ihr zweites Zuhause, zumindest an allen Abenden unter der Woche. Wenn Ann-Sophie ihre großen Ziele erreichen will, muss sie mindestens viermal wöchentlich trainieren. Wie organisiert sie ihren Trainingsalltag, wenn die Wettkämpfe so lange Konzentration erfordern?

Ann-Sophie kann also in zwei Vereinen bis zu siebenmal pro Woche trainieren – wenn ihr Körper mitmacht. Eigentlich müsste sie sechs Übungseinheiten à 120 Schuss einlegen, das schafft die Ahrensburgerin aber selten. Denn ihre Wochenplanung hängt neben den Schießzeiten der Vereine vor allem von ihrer Gesundheit ab. Deshalb startet Ann-Sophie im Rollstuhl sitzend in einer anderen Wettkampfklasse - wie es normalerweise nur bei Senioren erlaubt ist. 

Es geht bei ihr nicht um Muskelkater oder kleinere Sportverletzungen. Es geht um Notaufnahmen, PEG-Sonden und Gendefekte, die ihr nicht nur den Schlaf, sondern manchmal auch jegliche Kraft zum Aufstehen rauben.

Kapitel 2: Der Überlebenskampf

"Seht ihr das auch? Könnt ihr das auch sehen?
Richtig gutes Zeug. Ich krieg' die Tür nicht mehr zu."
- Richtig gutes Zeug (Deichkind) -

Eigentlich müsste ich schon tot sein”, sagt Ann-Sophie. Ob sie ihre sportlichen Träume verwirklichen kann, liegt nicht allein an ihrem Talent, denn ihre Lebenserwartung ist gering und das gleich aufgrund mehrerer Diagnosen. Sie ist mit zwei Gendefekten geboren und hat damit auch gleich zwei sogenannte seltene Krankheiten – „selten“, weil per Definition der EU nicht mehr als eine von 2.000 Personen davon betroffen ist. "Die Chance, beides auf einmal zu haben, ist so groß, wie zweimal hintereinander im Lotto zu gewinnen", sagte sie einmal gegenüber dem SHZ. Dennoch sind diese beiden Erkrankungen für Ann-Sophie nur zwei auf einer längeren Liste.

2010 bekam Ann-Sophie die erste Diagnose: Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) Typ vier. Diese nicht behandelbare Bindegewebserkrankung betrifft das Kollagen, ein Protein, das bis zu 25 Prozent des gesamten menschlichen Proteingehaltes ausmacht und im Grunde der Klebstoff des menschlichen Körpers ist. Beim EDS wird dieses nicht ausreichend produziert beziehungsweise richtig verarbeitet. Typ vier äußert sich durch überbewegliche Gelenke, fragile Gefäße sowie empfindliche Organe und Haut. Das ist einerseits sehr schmerzhaft, kann aber auch tödlich sein.

Knochenbrüche oder -risse, spontan aufreißende Gefäße, die zu fatalen Blutungen führen können, erschwerter Muskelaufbau, Schäden an Bändern und Sehnen, täglich herausspringende Gelenke und, wie auch in Ann-Sophies Fall, eine eingeschränkte Gehfähigkeit – die Folgen sind weitreichend.

Derartig einschränkende Krankheiten treten zudem häufig nicht allein auf. Begleiterkrankungen, teils noch ohne klar erforschten Zusammenhang, sind die Folge. In Kombination mit dem EDS Typ vier bekam Ann-Sophie ein Jahr später die Diagnosen POTS und MCAS.

Beim posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS) kommt es zu einem rapiden Herzfrequenzanstieg. Das führt unter anderem zu Schwindel, Sehstörungen, Benommenheit oder auch Kurzatmigkeit. Das Mastzellaktivierungssyndrom (MACS), das nicht selten auch in diesem Komplex auftritt, kann zudem prinzipiell jedes System im Körper betreffen. Dort werden die Mastzellen des Immunsystems dazu angeregt, Botenstoffe wie Histamin freizusetzen und daraufhin zu zerfallen. Das wiederum lockt noch mehr Mastzellen an und versetzt die umliegenden Zellen in einen Ausnahmezustand. Wie beim POTS kann dies durch äußere Reize wie Kälte/Hitze, Stress oder körperliche Anstrengung getriggert werden. Die Folge sind Symptome ähnlich einer allergischen Reaktion, beispielsweise also Müdigkeit, Ausschlag, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel, Atem- oder Sehprobleme.

Den Umgang mit zahlreichen Beschwerden kennt Ann-Sophie seit frühester Kindheit. Sie war Frühchen, hatte mit Augenproblemen und Hörbehinderungen zu kämpfen. Zudem zeigte sie früh leichte Züge von Autismus, wie sie erzählt: “Der Umgang mit Gefühlen, seien es Dinge, die ich gefühlt habe oder Dinge, die mein Umfeld gefühlt hat, war für mich schon immer sehr, sehr schwer.” Mittlerweile habe sie gelernt damit umzugehen, wovon sie auch später noch mehr berichten wird.

Doch emotionale Belastungen spielen auch für andere ihrer Krankheiten eine Rolle, denn 2013 kommt für sie eine weitere Diagnose: Narkolepsie, umgangssprachlich „Schlafkrankheit“ genannt, deren Schübe durch Emotionen getriggert werden können. Auch diese trägt zu den starken Müdigkeitssymptomen bei und führt dazu, dass Ann-Sophie spontan „einschläft“. Es kommt dabei zu kurz andauernden Episoden von Lähmungen beziehungsweise Muskelversagen.

Damit haben einige der Erkrankungen gemeinsam, dass emotionaler Stress und auch andere äußere Umstände sich negativ auf sie auswirken. In Kombination sind sie selbst eine starke Belastung im Alltag. Dabei hat Ann-Sophie nicht nur diese Beschwerden, sondern noch weitere, die lange ohne Diagnose blieben. Denn zusätzlich leidet sie am sogenannten CAPS – dem Cryopyrin-Assoziierten Periodischen Syndrom, ihrer zweiten seltenen Krankheit, die durch einen Gendefekt ausgelöst wird. Was bedeutet das für den Alltag der jungen Frau?

Da das CAPS zu Schluckstörungen führt und ihr Körper große Mengen Energie benötigt, die durch Essen allein nicht aufgefangen werden kann, muss sich Ann-Sophie über eine PEG-Sonde ernähren. Dazu kommen die starken Fieberschübe und Symptome ähnlich allergischer Reaktionen, die so schlimm werden können, dass Ann-Sophie auf der Intensivstation landet und künstlich beatmet werden muss. Zehnmal musste sie schon reanimiert werden, der längste Herzstillstand dauerte 20 Minuten lang. Diese starken Schübe bringen auch lang anhaltende neurologische Folgen mit sich, wie einen schleichenden Seh- und Hörverlust. Weltweit sind nur circa 1.000 Fälle des CAPS bekannt. Da es ebenfalls kaum behandelbar und damit fortschreitend ist, haben Betroffene eine geringe Lebenserwartung. Der Verlauf hängt dabei auch davon ab, wann es festgestellt und behandelt wird. Ann-Sophies Diagnose kam erst spät:

Wie man sich Ann-Sophies Alltag mit den Krankheiten vorstellen muss, wird vor allem durch Bilder deutlich, die man sonst nur aus Krankenhäusern kennt.

Zu der Zeit, in der Ann-Sophie bereits lange mit den Symptomen des CAPS lebt, es jedoch noch nicht diagnostiziert wurde, leidet sie zudem an einer weiteren schweren Krankheit: 2014 wird bei ihr Akute Lymphatische Leukämie (ALL) festgestellt. Dabei verändert sich eine Zelle im lymphatischen System und vermehrt sich unkontrolliert. Die so entstehenden Zellen sind jedoch nicht funktionsfähig. Sie können sich im Knochenmark ansammeln und behindern die Bildung gesunder Blutzellen. Die Chemotherapie zeigt bei Ann-Sophie keinen wirklichen Erfolg und der Verlauf wird chronisch. Damit hat sie nun Chronisch Lymphatische Leukämie (CLL), die in Deutschland die häufigste Form ist. Diese begleitet sie bis heute, vor allem in Form der Erhaltungschemotherapie.

Die Chemo bekommt sie momentan alle 14 Tage je drei Tage lang. Bei bekannten Präparaten kümmert sich Ann-Sophies ambulanter Pflegedienst darum, für neue muss sie die ersten beiden Male ins Krankenhaus. Das liegt auch an den starken Nebenwirkungen der Medikamente, die selbst die erfahrene Ahrensburgerin aus der Bahn werfen. “Ich bekomme jetzt Chemo”, schreibt sie das eine Mal. “Weiß nicht, ob ich mich dann heute noch melden kann oder ob es mir wieder richtig schlecht geht danach.” Während des Kontaktes mit ihr gab es nur wenige Momente, in denen Ann-Sophie aufgrund ihrer Krankheiten nicht erreichbar war. Sie schafft, was für Außenstehende wie ein Wunder wirkt, und meistert trotz allem ihren Alltag.

Dieser wird dennoch zu einem großen Teil durch ihre Krankheiten – und nicht wie man anfangs glauben mag durch den Sport – bestimmt, denn je nach aktuellem Zustand muss sie einschätzen, wozu sie sich gerade körperlich in der Lage fühlt. Im Zentrum ihres Tagesablaufes: Die Medikamentengabe zahlreicher Präparate unter anderem durch einen Port an ihrem Schlüsselbein. Aktuell bekommt sie neben der Chemo noch histamin-hemmende Medikamente, Immunsuppressiva und Betablocker. Dazu kommen symptomatisch Schmerzmedikamente, ein Mittel gegen Übelkeit, “Luftnotsenker” sowie Elektrolyte und Vitamine bei ihrer Sondennahrung. Die Medikamente haben teils starke Nebenwirkungen, die wiederum mit anderen Medikamenten gelindert werden sollen. Desinfizieren. Spritze vorbereiten. Verabreichen. Nächstes Medikament. Mittlerweile hat sie dabei eine Routine entwickelt:

Ann-Sophie verabreicht sich ihre Medikamente, im Hintergrund ist die Musik ihres Freundes Patrick zu hören. Musik: Alarm!Silence. - Alarm and then silence (Early Rehearsal Version)

Ann-Sophie verabreicht sich ihre Medikamente, im Hintergrund ist die Musik ihres Freundes Patrick zu hören. Musik: Alarm!Silence. - Alarm and then silence (Early Rehearsal Version)

Auch wenn die Reihenfolge der Medikamente sich inzwischen in ihr Gehirn gebrannt hat, bekommt Ann-Sophie dabei Unterstützung: Ein Pflegedienst assistiert ihr vor Ort, vor allem bei der Chemotherapie. Er besorgt ihr Verbrauchsmaterial wie Verbände und hilft bei der Versorgung des Ports und der PEG-Sonde. Wenn sie allerdings einen ihrer Schübe hat, heißt es sofort: Ab in die Notaufnahme. Das kann früh morgens, mittags und nachts passieren und macht ihren Alltag unberechenbar: “Es gibt kein Schema F, weil die Krankheit meinen Rhythmus vorgibt.” Damit muss auch ihr Umfeld klar kommen. Spontane Absagen sind an der Tagesordnung. 

Selbst in stabilen Phasen ist die Woche so voller Termine rund um ihre Erkrankungen, dass sie alles andere drum herum planen muss – und das “alles andere” ist eine Menge: Mindestens viermal pro Woche Schießtraining, am Wochenende Wettkämpfe, fast täglich Zeit fürs Pferd und ihre Reitschüler. Zusätzlich stehen pro Tag vier bis fünf Medikamentengaben an – die früheste zu Zeiten, wo andere von der Party nach Hause kommen:

Vormittags also Zeit mit Pferden verbringen, abends Schießen und sich zwischendrin um ihre Gesundheit kümmern – das muss Ann-Sophie alles größtenteils allein managen, denn sie ist aus ihrem Elternhaus ausgezogen. Wobei allein nicht ganz stimmt: Ein tierischer Begleiter ist immer an ihrer Seite.

Kapitel 3: Die Unterstützer

"If I lay here, if I just lay here.
Would you lie with me and just forget the world?"
- Chasing Cars (Snow Patrol) -

Wenn Ann-Sophie Ablenkung vom Klinikalltag braucht, hört sie gern Musik oder ist in der Nähe von Tieren zu finden. Überall mit dabei: ihr ausgebildeter Assistenz- und Diabetikerwarnhund. Wenn die 21-Jährige allein ihrer Zweizimmerwohnung ist, weil ihr Freund als Journalist auswärts über andere beeindruckende Geschichten berichten darf, passt Jackomo auf sie auf – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn der vier Jahre alte Golden Retriever kann in vielen Situationen das Leben seiner Herrin retten.

Noch bevor Ann-Sophie das Schießen und Jackomo für sich entdeckte, gab und gibt es eine andere positive Konstante in ihrem Leben: Pferde, genauer gesagt zwei. Mit viereinhalb Jahren begann sie in der örtlichen Reitschule zu reiten, mit zwölf Jahren bekam sie ihr erstes Pony Aragon. Ein in den Anfangsjahren schwieriges Pferd und Ann-Sophie wuchsen zusammen – bis sie ihr “Herzenspferd aus Vernunft” vor einem Jahr an die damalige Reitbeteiligung abgab. Sieben Jahre war Aragon also ihr Anker, jetzt ist es der schwarze Wallach Bajazzo. Ein Pensionspferd, das ihr Freund mitversorgt, wenn sie verhindert ist. Ann-Sophie hat einen Trainerschein und gibt Reitstunden. “Durch das Reiten komme ich auf dem Rücken der Pferde zu Orten, die ich mit meinem Rollstuhl nie sehen können würde”, schwärmt sie von dem Gefühl von Freiheit. 

Der Reitsport hat sie zum einen fit für ihre zweite “Laufbahn” gemacht, aber zum anderen auch dabei geholfen, sich mit dem Autismus auseinanderzusetzen. 

Und noch einen Vorteil hat ihr fast täglicher Kontakt mit Pferden: “Mit dem Pferd zu arbeiten, hat eine super gute Auswirkung auf das Muskel-Skelett-System. Ich trage da einen deutlich größeren Benefit davon als mit einer reinen Physiotherapie”, erzählt Ann-Sophie. 

Zwischenzeitlich hatten ihre Eltern sogar einen eigenen Stall, der aber inzwischen verkauft wurde. Ann-Sophie ist seit einem Jahr aus dem Elternhaus ausgezogen, hat sich aber schon früh von den Eltern abgenabelt. Sie wohnte lange in einer eigenen Wohnung im Elternhaus, inzwischen ist das Verhältnis angespannt. Ein Punkt, der Ann-Sophie triggert: Es ist der einzige Moment, an dem sie eine klare Grenze dessen aufzeigt, was sie preisgeben will.

Ihr selbst zeigt die fortschreitende Krankheit Grenzen auf – der Pferdefan muss das Reiten als Turniersport fallen lassen und ihren Berufswunsch aufgeben, auf einem Gestüt zu arbeiten. Sie genießt also momentan die gemeinsame Zeit mit Bajazzo. “Er wird mein letztes eigenes Pferd sein”, stellt sie fest und klingt dabei sehr wehmütig. Mit einer nun sehr positiv klingenden Stimme sagt Ann-Sophie dann aber, sie sei froh, dass ihre Eltern ihr früh erlaubt haben zu reiten. “Das steigert enorm das Körpergefühl, was mir auch jetzt mit meiner Erkrankung deutliche Vorteile bringt.” Eine Erkrankung, deren Diagnose zum Spießrutenlauf wurde.

Ann-Sophie kommt neun Wochen zu früh zur Welt, weshalb sie wie viele andere Frühchen Augenprobleme hat, eine Brille trägt und schielt. Außerdem hat sie mit Hörproblemen zu kämpfen, musste früh Hörgeräte tragen. “Meine Freunde und Familie mussten früh lernen, dass ich anders bin”, so lässt sie ihre Kindheit Revue passieren. Und auch die ersten Anzeichen des Autismus waren zunächst schwierig. “Wegen meiner Seh-, Hör- und kognitiven Schwächen war ich ein schwieriges Kind. Ich habe mich schwergetan, mich auf Freund- oder Bekanntschaften einzulassen.” Gefühle zu zeigen und zu verstehen war eine Herausforderung – alles musste für die junge Ann-Sophie sachlich ergründbar sein. Sie sei und bleibe Autist, aber es stehe ihr inzwischen weniger im Weg, sagt die junge Frau.

Sie lebt jahrelang mit den Symptomen ihrer Krankheiten, die auf die Geburt als Frühchen, auf den Wachstum und auf die Psyche geschoben wurden. Erst im Teenager-Alter bekam Ann-Sophie die ersten richtigen Diagnose, zuletzt die des CAPS. “Dadurch dass die Erkrankung endlich einen Namen hatte, wusste ich, was auf mich zukommt, weil ich die ganze Zeit ja schon damit lebte”, erzählt sie. “Ich habe ab dem Moment beschlossen, weiterzumachen, nicht aufzugeben. Ich vermisse nichts.”

Die Schulzeit sei nicht rosig gewesen, verrät sie uns. Weder Lehrer noch Mitschüler hatten wirklich Verständnis für ihre Situation. Inzwischen hat sie aber Freunde gefunden. Auch wenn das nicht immer einfach ist:

Eine “lustige, bunt zusammengewürfelte Truppe”, beschreibt Ann-Sophie ihren Freundeskreis. Dazu gehört auch ihr Freund Patrick, den sie auf einer Veranstaltung kennengelernt hat. Er hat wie Ann-Sophie eine eigene Wohnung, inzwischen leben sie aber mehr oder weniger zu zweit in ihrer Zweizimmerwohnung. Dabei sind Vertrauen und eine gewisse Routine wichtig:

Wer denkt, mehrere zeitintensive Hobbys, eine Beziehung, das soziale Umfeld, (Haus-)Tiere und jede Menge “Drogen”, wie sie ihre Medikamente scherzhaft nennt, sind genug Beschäftigung, der irrt: Auf Instagram gibt sie Einblicke in ihr verrücktes Leben, regt mit Geschichten und Eindrücken aus ihrem Alltag zum Nachdenken an. Leute, die sich unerlaubt auf Behindertenparkplätze stellen, sind ihr genauso ein Dorn im Auge wie die Panik um das Coronavirus. “Seit einigen Tagen warte ich darauf, dass meine Apotheke mir Sterillium (Desinfektionsmittel, Anm. d. Red.) liefern kann. Während dort draußen nun 100 Menschen zur eigenen Beruhigung sich stündlich die Hände desinfizieren, sitze ich hier und versuche, mit meinen letzten Resten, die ich habe, möglichst steril an meinem Port zu arbeiten, damit ich (über-)leben kann.”

Auf der Fotoplattform spielt natürlich auch Fotografie eine wesentliche Rolle. Dabei zeigt Ann-Sophie mit ehrlichen Schnappschüssen die harten, aber auch schönen Momente ihres Alltags. Dass man sich trotz Rollstuhl und körperlichen Einschränkungen auch vor professionellen Kameras nicht verstecken muss, hat Ann-Sophie bei zahlreichen Shootings bewiesen. Dabei stehen sowohl ihr Rollstuhl als auch ihre Tiere oft im Mittelpunkt.

"Was ich nicht möchte, ist jammern. Was ich nicht möchte, ist aufgeben."

Ann-Sophie lebt im Moment, denkt aber dennoch auch langfristig. Sie ist zwar berentet, studiert aber an einer Universität in Köln Sportwissenschaften und Betriebswirtschaft im Fernstudium. Aktuell schreibt sie ihre Bachelorarbeit und plant, das Studium frühzeitig im vierten Semester abzuschließen. Man wisse ja nie, was in den nächsten Jahren noch kommt.

Ehrgeiz – das ist ein Schlüsselwort in Ann-Sophies Leben. Sei es ihr Kampf mit dem eigenen Körper, eine mögliche berufliche Zukunft nach dem Studium oder eben auch der Sport. Aufgeben ist nicht drin, das wird aus ihren Texten, aber auch aus den Gesprächen mit ihr deutlich. Für dieses Durchhaltevermögen soll Ann-Sophie ab und an auch belohnt werden.

Kapitel 4: Der Wettkampf

"Es sind Tage wie diese, die wir später verstehen. Tage wie diese, sie machen keinen Reim, doch schaust
du zurück, sind sie ein Meilenstein."
- Meilenstein (Alexander Knappe) -

Kellinghusen, mitten in Schleswig-Holstein. Im Landesleistungszentrum trainieren die besten Schützen Norddeutschlands – und suchen ihre Landesmeister im Luftpistolenschießen. Mittendrin: Ann-Sophie Bäth. Um Punkt 12 Uhr muss Startnummer 1784 auf Stand 21 funktionieren, alles ausblenden, sich auf das Ziel fokussieren. Eine Unkonzentriertheit und aus ist der Traum von den Deutschen Meisterschaften.

Es ist Mitte Juni und nach nur einem Jahr am Gewehr will Ann-Sophie Bäth Landesmeisterin 2019 werden. Die Konkurrenz in ihrer Behindertenklasse sagt reihenweise ab, dennoch muss sie für die Norm der Deutschen Meisterschaft alles geben. Heute darf ihr Körper ihr keinen Strich durch die Rechnung machen.

“Ziel: Medaille, Farbe egal”, schreibt Ann-Sophie auf Instagram. Sie will “den Blick nach vorne richten, angreifen und kämpfen.” Aber erstmal wartet die Waffenkontrolle. Es ist 10.30 Uhr. Eineinhalb Stunden vor Wettkampfbeginn muss sie ihr Luftgewehr, samt Munition und Hilfsmittel, die Ann-Sophie als Nachteilsausgleich nutzen darf, überprüfen lassen. Die Sicherung der Waffe muss funktionieren, das Zubehör regelkonform sein und sowohl Waffenbesitzkarte als auch Sportausweis werden kontrolliert. Wenn bei der Kontrolle etwas schiefgeht, ist es vorbei mit den Medaillenträumen.

Ab jetzt sieht Ann-Sophie ihr Gewehr solange nicht mehr, bis die Stände freigegeben werden. Noch ist also Zeit, mit den Teamkameraden zu plaudern. Um 11.45 Uhr ist Stand 21 freigegeben – aber nur zur Probe. Bevor das Schießen beginnt, hat jeder 15 Minuten Zeit, sich auf den Stand einzustellen. Die Nervosität muss spätestens jetzt verfliegen. Nun ist nicht nur die Kämpferin, sondern auch die Wettkämpferin gefragt. Ann-Sophie hat hierfür ein Schema F:


Die Standaufsicht gibt die Landesmeisterschaft frei, alle drücken den grünen Knopf neben sich – ab jetzt zählt's. 45 Minuten Zeit für 40 Schuss und dabei möglichst den Zehner-Ring in der Mitte treffen. Der ist zehn Meter von der Schützin entfernt und 11,5 Millimeter, die Ringe eins bis neun gerade einmal acht Millimeter breit. Im Training schießt Ann-Sophie 394 Ringe im Schnitt – eine Neun muss also die absolute Ausnahme bleiben. Ob ihr das gelingt?


“Garching, Garching - ich fahre nach Garching.” Ann-Sophie darf jubeln: Sie wird mit 390 Ringen überlegen Landesmeisterin in Schleswig-Holstein und darf im August zu ihrer ersten Deutschen Meisterschaft (DM). Sie hat über ihren Körper gesiegt – aber nur heute. Denn obwohl die Startkarte für die DM vor ihr liegt, kann sie nicht gen Süden reisen. Wie so oft entscheidet ihre Gesundheit anders: Ann-Sophie muss absagen. 

Aber der Bundestrainer ist auf sie aufmerksam geworden und das Talent am Luftgewehr will diese Saison durchstarten. Mitte März stehen als erstes die Kreismeisterschaften an. Bis zu 20 Wettbewerbe in Mannschaft und Einzel hat die Schützin vor sich. Seit Januar trainiert Ann Sophie wieder regelmäßig. Nach acht Wochen Wettkampfpause mit vielen Trockenübungen kann sie es kaum erwarten, ihr Gewehr wieder in der Hand zu halten. Das Saisonziel dieses Mal sind die DM und ihre ersten internationalen Schüsse. Die (Wett-)kämpferin hat ihr Ziel fest im Blick, der nächste große Meilenstein wartet: Paralympics 2024 in Paris.

Wenn es Ann-Sophies Körper zulässt, kann sie Sportgeschichte schreiben.

Making Of: Die Redakteurinnen

"Geh nicht dahin, wo der Weg dich hinführt. Geh dahin, wo es keinen Weg gibt und hinterlasse eine Spur."
- Ralph Waldo Emerson -

WIE HABT IHR ANN-SOPHIE GEFUNDEN?

Die Antwort ist unspektakulär: Via Instagram. Wir waren beeindruckt von ihrer Offenheit und ihren Worten, die sie in einem sozialen Netzwerk wählt, das eigentlich mehr für Filter und Perfektion steht als für Ehrlichkeit und Gendefekte.


WIE LIEF DIE RECHERCHE AB?

Wir haben Ann-Sophie auf Instagram angeschrieben und sie war sofort bereit, für unsere Multimedia-Story interviewt zu werden. Vielleicht war es auch hilfreich, dass Annika (eine der Redakteurinnen) den gleichen Spitznamen hat :-) Wir haben Ann-Sophie mit Fragen bombardiert. Deshalb haben wir inzwischen 50 Sprachnachrichten von ihr, in denen sie uns mit in ihren Alltag genommen hat. Natürlich mussten wir uns nach ihrem Rhythmus richten, was aber kein Problem war. Gerne hätten wir Ann-Sophie auch persönlich kennengelernt, das war aber aufgrund der Distanz und ihrer vollgepackten Wochenplanung, die sich jederzeit um 180 Grad drehen kann, nicht möglich. Deshalb haben wir diese Multimedia-Story auf Fotomaterial von ihr und unseren Fragen aufgebaut. Natürlich haben wir aber auch darüber hinaus zu den Krankheiten, dem Schießen und ihrem Lebenslauf ausführlich im Internet recherchiert.


WARUM HABT IHR ANN-SOPHIE AUSGEWÄHLT?

Ursprünglich wollten wir einen Paralympioniken porträtieren, dann sind wir aber auf Ann-Sophie gestoßen. Wir wollten herausfinden, welche Rolle Sport für die Menschen spielen kann, die ein Handicap haben – genau deswegen ist die Rahmenhandlung in diesem Portrait nicht ihr Krankheitsverlauf, sondern ihr Talent am Luftgewehr.
Chronische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft noch weniger Gesprächsthema als offensichtliche Behinderungen und Betroffene haben mit massiven Akzeptanz-Problemen zu kämpfen. Ann-Sophie beschreibt auf ihrem Instagram-Profil zum Beispiel das Problem der zugeparkten Behinderten-Parkplätze verbunden mit Aussagen wie: "Du bist doch gar nicht behindert." Wir haben mit Ann-Sophie eine junge Frau und Kämpferin getroffen, die Gesicht zeigt und eine Geschichte zu erzählen hat, die außergewöhnlich ist. Diese Beiträge im Video verdeutlichen das sehr gut.

WAR ES SCHWER FÜR EUCH, PRIVATE FRAGEN ZU STELLEN?

Ja und Nein. Ja, natürlich möchte man niemandem zu nahe treten oder für negative Gedanken verantwortlich sein, beziehungsweise bereits verdrängte Gefühle nicht wieder aufleben lassen. Aber Ann-Sophie geht mit ihrer Lebensgeschichte sehr offen um. Das war uns bewusst, als wir ihr Instagram-Profil gesehen haben und deswegen war sie auch unsere Wunsch-Interviewpartnerin.
Nein, weil wir gemerkt haben, dass unsere Berührungsängste völlig unbegründet sind und wir uns öfter einen lockeren Spruch eingefangen haben als ein "darüber will ich nicht reden."
Damit ihr ein Gefühl für unsere Gesprächsatmosphäre bekommt, hier ein Beispiel:

DIE REDAKTEURINNEN

Annika Braun (im Bild rechts) und Julia Walter (links), 22 und 23 Jahre alt, studieren Medienmanagement an der Hochschule Mittweida in der Vertiefung "Digital Media and Journalism". "Die Wettkämpferin" ist ihre Abschluss-Story des journalistischen Moduls im fünften Semester. Beiden ist die Abbildung einer vielfältigen Gesellschaft wichtig, in der chronisch Behinderte genauso wenig stigmatisiert werden wie Menschen mit psychischen oder physischen Einschränkungen. Julia absolviert derzeit ihr Praktikumssemester in der Öffentlichkeitsarbeit einer sächsischen Stadt, während Annika beim ZDF und SWR TV-Redaktionsluft schnuppern wird.

Fotos und Video: Ann-Sophie Bäth
Foto- und Videobearbeitung: Julia Walter
Audio: Annika Braun
Text, Making Of: Julia Walter und Annika Braun